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Der lange Weg zur letzten Ruhe

(UAZ) AB.1.0027: Richard Avenarius, ca. 1890. Bild: Sophia Goudstikker

Richard Avenarius, geboren 1843 in Paris, verstorben 1896 in Zürich wurde als Philosophieprofessor 1877 an die UZH berufen. Damals waren die Fachrichtungen Psychologie und Pädagogik noch keine eigenständigen Disziplinen und liefen unter dem Dach der Philosophie. So habilitierte Avenarius bei Wilhelm Wundt (1832–1920), welcher vor allem durch seine psychologischen Studien Berühmtheit erlangte. Wundt, selbst für kurze Zeit an der Universität Zürich, setzte sich stark für die Berufung von Avenarius ein. Avenarius war nicht unpopulär und hatte einen Kreis engagierter Zuhörer und Zuhörerinnen. Seine beiden komplexen Hauptwerke «Die Kritik der reinen Erfahrung» und «Der menschliche Weltbegriff» fanden jedoch in der Fachwelt keinen grossen Widerhall. Erst nach seinem Tod wurden seine Werke stärker diskutiert – wenn auch nur für knapp 30 Jahre. Einen grösseren Bekanntheitsgrad behielt Avenarius im ehemaligen Ostblock. Dies verdankte er Lenin, welcher sich in seiner Abhandlung Materialismus und Empiriokritizismus 1909 mit Avenarius Ansichten auseinandersetzte. Avenarius litt darunter, dass er nie an eine renommierte Universität nach Deutschland berufen wurde. Erst buchstäblich auf seinem Totenbett erhielt der den Ruf an die Universität Freiburg im Breisgau.

Friedhofs- und Bestattungsamt: Alte Grabnische von Avenarius, ca. 1896. Bild: Rudolf Ganz

Avenarius erhielt auf dem Friedhof Sihlfeld in Zürich ein Nischengrab, welches aber auf 25 Jahre befristet war. Als es nach Ablauf der Frist hätte aufgehoben werden sollen, wurde das in der Zeitung publiziert. Es konnten hierzulande nämlich keine Verwandten aufgefunden werden. Ein aufmerksamer Leser wies den Rektor auf diesen Umstand hin. Die Universität entschied sich gegen die Überführung in ein anonymes Gemeinschaftsgrab und nahm die Urne wieder in Empfang. Die Urne wurde im Sockel einer Büste von Avenarius platziert, wie dem Jahresbericht 1925/26 zu entnehmen ist. Die Büste stand und steht noch heute vor der Aula im Hauptgebäude. Die Universität folgte dem bereits kurz nach Avenarius’ Tod geäusserten Wunsch der Witwe, die Urne in einer Büste versorgt im Rektoratszimmer aufzustellen. Dies war als Zwischenlösung gedacht, bis ein Pantheon hätte existieren sollen, was aber nie passierte. Mehrere Jahrzehnte verblieb die Urne im Sockel. Generationen von Studierenden, Dozierenden und Gästen passierten die Büste ohne zu wissen, dass sich darin die sterblichen Überreste des Abgebildeten befanden. So auch Winston Churchill, der 1946 seine berühmte Rede in der Aula hielt.

Die Urne von Avenarius im UZH Archiv. Bild: Martin Akeret

Es ist nicht bekannt, wann und warum die Urne herausgenommen wurde. Eines Tages wurde sie jedoch dem UZH Archiv übergeben. In den Archivregalen ruhte die Urne wiederum mehrere Jahrzehnte. Ab und zu wurde sie anlässlich einer Führung bestaunt oder tauchte in einem Artikel in einem der Publikationsorgane der UZH auf.

2020 ergriff Prof. Andreas Maercker vom Institut für Psychologie die Initiative und nahm mit dem Bestattungs- und Friedhofamt der Stadt Zürich Kontakt auf zwecks einer Wiederbestattung. Hintergrund war das 125 Jahr Jubiläum des Instituts für Psychologie. Am 20. Mai 2021 fand im Beisein von Vertretern der Institute für Psychologie, Philosophie und Erziehungswissenschaften, dem UZH Archiv und weiteren Gästen die feierliche Wiederbestattung statt. Avenarius ruht nun in der Grabnische Nr. 248 im Friedhof Sihlfeld. Die Grabnischen sind öffentlich zugänglich und befinden sich im alten Krematorium im ältesten Teil des Friedhofs. Die letzte Ruhe des Professors wird es aber wiederum nicht sein. Es handelt sich um eine Mietgrabnische. 2071 wird die UZH wieder mit derselben Frage konfrontiert sein, wie das Rektorat im Jahr 1925. Aus Sicht des Archivs handelt es sich nicht um eine archivtechnisch perfekte Lösung. Im Wissen dieser Tatsache hinterlegte der Leiter des UZH Archivs einen von allen Teammitgliedern des Archivs unterzeichnenden Brief mit erklärenden Worten. Damit verbunden ist die Hoffnung auf die Nachsicht jener Personen, die 2071 für das UZH Archiv tätig sein werden und sich wieder um die sterblichen Überreste eines dann vor beinahe 200 Jahren verstorbenen Gelehrten kümmern müssen.

Neue Grabnische. Bild: Martin Akeret

Quellen

(UAZ) AB.1.0027 Dozierendendossier Richard Avenarius

Pollack, Olga: Richard Ludwig Heinrich Avenarius, ursprünglich Richard L. H. Habermann (1843-1896). https://www.paedagogik-feiert.uzh.ch/de/personenbiographien/avenariusrichardludwig.html 2019 [Stand: 20.05.2022].

Meier-Asmeg, Rachida: Die Asche von Richard Avenarius. https://www.paedagogik-feiert.uzh.ch/de/personenbiographien/avenariusrichard_asche.html 2019 [Stand: 20.05.2022].

Nickl, Roger: Die Urne des Philosophen (Rückspiegel), unimagazin Nr. 4/2006.